The Notwist

Auf Vertigo Days, dem ersten Album von The Notwist seit sechs Jahren, präsentiert sich eine der wohl wegweisendsten Indie-Bands des Landes ganz im Hier im Jetzt. Neugier und Offenheit waren schon immer treibende Kräfte hinter der Musik von The Notwist, doch selten wurde das deutlich wie auf Vertigo Days. Musikalisch vermittelt diese Offenheit sich im Amalgam aus melancholischem Pop und funkelnder Elektronik, hypnotischem Krautrock und schwebenden Balladen...
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Auf Vertigo Days, dem ersten Album von The Notwist seit sechs Jahren, präsentiert sich eine der wohl wegweisendsten Indie-Bands des Landes ganz im Hier im Jetzt. Neugier und Offenheit waren schon immer treibende Kräfte hinter der Musik von The Notwist, doch selten wurde das deutlich wie auf Vertigo Days. Musikalisch vermittelt diese Offenheit sich im Amalgam aus melancholischem Pop und funkelnder Elektronik, hypnotischem Krautrock und schwebenden Balladen. Konzeptuell zeigt sie sich im Umstand, dass The Notwist ihre Kernbesetzung (bestehend aus den Brüdern Markus und Micha Acher sowie Cico Beck) für dieses Album um Gastmusiker*Innen erweitert haben: „Wir wollten das gängige Konzept einer Band in Frage stellen, aber auch die Idee von nationalen Identitäten aufweichen“, erklärt Markus Acher. „Darum haben wir auch anderen Stimmen und Sprachen Raum gegeben.“
Sechs Jahre sind seit dem letzten Album (Close To The Glass) vergangen. Jahre, welche die Mitglieder der Band nicht nur ihren anderen Bands gewidmet haben (z.B. Spirit Fest, Hochzeitskapelle, Alien Ensemble, Joasihno), sondern auch dem Betreiben eines eigenen Plattenlabels (Alien Transistor), dem Komponieren mehrerer Filmmusiken sowie dem Kuratieren von Compilations (zuletzt Minna Miteru) und einem jährlich stattfindenden Festival (Alien Disko). All das hinterließ auf dem neuen Album Spuren. Es spiegelt sich vor allem in seiner Struktur, die das Ergebnis eines offenen, kollektivistischen Prozesses ist: Aus Improvisationen wurden Songs, die oft ineinandergreifen. Entstanden ist eine äußerst lebendige Musik, deren cinematische Qualität sich auch im Artwork der japanischen Fotografin Lieko Shiga wiederfindet. Die wiedergefundene Offenheit zeigt sich bereits bei „Ship“, der ersten Single zum Album. Ein treibender, krautiger Groove dient hier als Fundamant für die entwaffnende Stimme von Saya, bekannt als weibliche Hälfte des japanischen Pop-Duos Tenniscoats. Ein weiterer Gast ist der US-amerikanische Multiinstrumentalist Ben LaMar Gay, der für „Oh Sweet Fire“ auch den Text schrieb: Ein „Liebesgedicht für heutige Zeiten“, das von Liebenden in den Wirren eines politischen Protestmarsches erzählt. Dem leicht spacigen Dream-Pop von „Into The Ice Age“ lieh die Jazzmusikerin Angel Bat Dawid ihr Klarinettenspiel. Zu „Al Sur“ schließlich steuerte die argentinische Sängerin und Produzentin Juana Molina Gesang und die elektronischen Teile des Arrangements bei. Bei diesem Stück tritt abermals Saya in Erscheinung, diesmal jedoch in ihrer Funktion als Teil des Bläserensembles Zayaendo. Unterdessen erlauben The Notwist der Musik, sich in immer neue, oft unerwartete Richtungen zu entwickeln – wie sie das auch bei Live-Auftritten tun.
Die Vielstimmigkeit aus Ideen, Stilen und Beteiligten wächst auf Vertigo Days zu etwas tatsächlich Kohärentem zusammen. Aus Diversität formiert sich ein Album im besten Sinne, eines, das beim Hören im Ganzen noch dazugewinnt. Auch die Songtexte sind miteinander verwoben: Sie erwecken, wie Markus Acher sagt, „das Gefühl eines zusammenhängenden Gedichts.“ In diesen facettenreichen Text haben sich die (geo-)politischen Unwägbarkeiten der letzten Jahre tief eingeschrieben: „Dass für unmöglich Gehaltenes jederzeit Realität werden kann, war so ein Thema, das wir eher aus dem Privaten kannten. Aber während der Aufnahmen zum Album hat sich die Situation dramatisch verändert. Plötzlich ereigneten sich diese unmöglich geglaubten Dinge auch außerhalb, in weltpolitischem Maßstab“, erläutert Markus, der dieser Erfahrung mit den poetischen Mitteln der Abstraktion begegnet, sie allerdings nicht als Einbahnstraße, sondern als multidirektionale Bewegung begreift: Globale Zusammenhänge verlängern sich auf Vertigo Days mitunter zurück ins Private. Alles ist in der Schwebe, sicher ist nur, dass nichts sicher ist. „Vielleicht geht es vor allem um einen Lernprozess, und darum, dass man nie wirklich irgendwo ankommt“, sagt Acher. „Sich dieser Unsicherheit zu stellen, erfordert Mut – sie erfüllt uns aber zugleich mit einem starken Gefühl der Lebendigkeit.“ Vertigo Days ist ein Album, das vor Lebendigkeit nur so strotzt. Open-minded, voller Begeisterung für Musik und für Ideen des Gemeinschaftlichen. Ein Album, das mit offenen Augen zu träumen wagt.

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On Vertigo Days, the first album in seven years for The Notwist, one of Germany’s most iconic independent groups are alive to the possibilities of the moment. Their music has long been open-minded and exploratory, but from its engrossing structure, through its combination of melancholy pop, clangorous electronics, hypnotic Krautrock and driftwork ballads, to its international musical guests, Vertigo Days is both a new step for The Notwist, and a reminder of just how singular they’ve always been...
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On Vertigo Days, the first album in seven years for The Notwist, one of Germany’s most iconic independent groups are alive to the possibilities of the moment. Their music has long been open-minded and exploratory, but from its engrossing structure, through its combination of melancholy pop, clangorous electronics, hypnotic Krautrock and driftwork ballads, to its international musical guests, Vertigo Days is both a new step for The Notwist, and a reminder of just how singular they’ve always been. Most importantly, the core trio of Markus and Micha Acher and Cico Beck are reaching out: as Markus reflects, “we wanted to question the concept of a band by adding other voices and ideas, other languages, and also question or blur the idea of national identity.” It’s been seven years since The Notwist’s last album, Close To The Glass, and in that time the various members of the group have been busy with side projects (Spirit Fest, Hochzeitskapelle, Alien Ensemble, Joasihno), guest appearances, a record label (Alien Transistor), movie scoring, helping organise the Minna Miteru compilation of Japanese indie pop & running a festival (Alien Disko). Those divergent paths feed back into Vertigo Days in surprising ways, from its structure, built from group improvisations, with songs flowing and melting into one another in a collective haze, to its spirit, which feels refreshed and alive. There’s something cinematic about Vertigo Days too, reflective of the group’s time working on soundtracks, and reflected in the rich, moody photographic artwork by Lieko Shiga that adorns the cover. The first sign of this newfound openness was the album’s lead single, “Ship”, where the group were joined by Saya of Japanese pop duo Tenniscoats, her disarmingly hymnal voice sighing over a propulsive, Krautrocking beat. Elsewhere, American multi-instrumentalist Ben LaMar Gay sings on “Oh Sweet Fire”, also contributing “a love lyric for these times, imagining two lovers in an uprising hand in hand.” American jazz clarinettist and composer Angel Bat Dawid adds clarinet to the spaced-out dream-pop of “Into The Ice Age”, while Argentinian electronica songwriter Juana Molina gifts some gorgeous singing and electronics to “Al Sur”. Saya also reappears as a member of Japanese brass band Zayaendo, who guest on the album. Throughout, The Notwist also capture the openness of their live performances, too, where they mix and link their songs in unexpected ways. Indeed, what’s most impressive about Vertigo Days is the way it sits together as one long, flowing suite, the album conceptualised as a whole entity – it’s perfect for the long-distance, dedicated listening experience. This is also captured by the album’s lyrics, which Markus states, “feel more like one long poem.” The dimensions of that poem are multi-faceted, something intensified by the geopolitical weirdness of its times: “As the situation changed so dramatically, while we were working on the record, the theme of ‘the impossible can happen anytime,’ more about personal relationships in the beginning, became a global and political story.” But it also works at a level of poetic abstraction, such that each song gestures in multiple directions – the deeply private pans out to the global. The one certainty is that there is no certainty. “It’s maybe mostly about learning and how you never arrive anywhere,” Markus concurs. To sit within uncertainty is brave, but it’s also where we feel most alive, and Vertigo Days is an album that is brimming with life, with enthusiasm and love for music and for community, all wide-eyed and dreaming.

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